Straßen aus Holz

Von Torsten Lüdecke

„(…) , soll jedermann jede Woche vor dem heiligen Sonntag den Unflat und den Mist die sich auf seinem Straßenabschnitt befinden, abfahren und wegbringen und auch keine Viehkadaver oder anderes Aas auf die Straße (…) tragen oder werfen.“

(Aus der Stader Bursprake von 1585)

Fäkalien, Mist und tote Tiere: Es ist ein eindrucksvoller Straßenzustandsbericht, der sich aus diesem Ausschnitt aus der Bursprake, den Rechtsvor­schriften der Stadt Stade, die jährlich vor den Bürgern verlesen wurden, noch für das 16. Jahrhundert ergibt. Immerhin bestand damals schon – wahrscheinlich seit dem 14. Jahrhundert – das Gebot der Straßenreinigung so dass die sich stetig neu ablagernden Abfälle wenigstens wöchentlich abgefahren wurden.

Was aber, so ist zu fragen, lässt sich für die Zeit vor dieser Regelung erschließen? Wir brauchen unsere Phantasie nicht besonders zu bemühen, um uns auf den frühen Straßen vor dem Einsetzen einer geregelten Straßenreinigung ein weitgehend ungehindertes Höherwachsen faulender Abfälle vorzustellen. War es so? Es war so. Bei den Ausgrabungen in Stade und in anderen Städten mit archäologischen Untersuchungen werden im Untergrund der heutigen Straßen immer wieder die schwarzen schmierigen, stark organischen Schichten von oft mehreren Dezimetern Mächtigkeit freigelegt, in denen wir die ältesten Geh- und Fahrniveaus vor uns haben, die sich besonders bei Regen in Morastflä­chen verwandelt haben müssen (Abb. 1).

Abb.1: Gestufter Schnitt durch die ehemalige Klosterstraße am Sande. Zuunterst über dem gewachsenen Lehmboden eine Schotterbefestigung. Darüber mächtige humose Straßenablagerungen, wechselnd mit Straßenbefestigungen aus Sand, aus Schlacke und aus Holz (Zweige und Bretter).

Die Städte waren natürlich auch schon in dieser frühen Zeit auf halbwegs passierbare Straßen angewiesen, zuallererst für den zügigen Transport der Waren auf Wagen und Karren. So wurde von Anfang an versucht, der Aufweichung des Untergrundes entgegenzuwirken und zumindest in den Hauptverkehrsachsen den Morast zu befestigen. Durch die Grabungsaufschlüsse erhalten wir zunehmend eine deutlichere Vorstellung von der Art dieser frühen Straßenbefestigungen.

Die wichtigste der Straßenformen war zweifellos lange Zeit die Holzstraße. Dies gilt nicht nur für Sta­de, sondern, wie erst kürzlich wieder eine Tagung zur Infrastruktur der mittelalterlichen Stadt in Lübeck gezeigt hat, auch für die meisten anderen Städte.

Den hölzernen Straßen gingen oft andere Formen der Befestigung voraus, die wir uns zunächst ansehen wollen. Ein gutes Beispiel ist der Grabungsschnitt der durch die ehemalige Klosterstraße am Sande gelegt werden konnte (Abb. 1). Hier fand sich zuunterst direkt auf dem gewachsenen Lehmboden eine gestampfte Schotterschicht. Derartige aus kleinen Feldsteinen und Flintsplittern bestehende Befestigungen auf vorher vom Humus befreiten Sand- und Lehmböden sind im Geestbereich der Stader Altstadt an mehreren Stellen erfasst worden, und sie stehen offensichtlich auch in anderen Städten in dieser Geländesituation oft am Anfang der frühen Straßenentwicklung Man könnte sie bereits als „Steinstraßen“ ansprechen, doch sollte dieser Begriff wohl besser nur den späteren Pflasterstraßen des 11. Jahrhunderts auf Sandbettungen vorbehalten bleiben, die auch erstmals in den zeitgenössischen Quellen dann so bezeichnet.

So gut es sich auf den Steinsplitt-Flächen gegan­gen und gefahren haben mag, in unserem Beispiel der Klosterstraße wie bei den anderen Straßen hatten sie nicht lange Bestand. Hatte sich erst einmal die unvermeidliche morastige Schmutzschicht gebildet – in der Abbildung deutlich zu erkennen – , war eine Erneue­rung dieser Befestigung nicht mehr möglich und man behalf sich mit anderen Lösungen. Eine war das Auf­bringen großer Mengen von Sand der in der Klosterstraße auf mehreren Niveaus angetroffen wurde. Zu anderen Zeiten kamen Schüttungen von Schmiedeschlacke und Steinen zum Einsatz. Eine weitere Variante schließlich war das Verlegen von Zweigen, Ästen und Brettern. Die – wie die Abbildung zeigt – deutlich parallel laufenden Bretter waren in Straßenrichtung verlegt. Wir haben hier schon eine sehr einfache Holzstraße vor uns.

Von ganz anderem Zuschnitt waren die hölzernen Fahrbahnkonstruktionen, deren Reste in den wichtigeren Straßen Stades angetroffen wurden. Die Grundform scheint der bereits seit der Steinzeit gebräuchliche Knüppeldamm aus Rundhölzern oder halbierten Hölzern gewesen zu sein, die zumeist auf in Straßenrichtung liegenden Unterzügen verlegt waren Bei bisher zwei Grabungen wurden darüber hinaus Reste zerstörter Bohlenwege aufgedeckt, die besonders auf­wendige Konstruktionen gehabt zu haben scheinen. Die in der Kehdinger Straße zwei Meter unter Gelände angeschnittenen Wegereste, die durch Jahrringbe­stimmung der Dammbefestigung auf 1338 ± 5 datiert wurden – ein Rammpfahl mit oberem Zapfenabschluss, Fragmente von Bohlen aus der Fahrbahndecke und ein längerer Unterzug -, erlauben die folgende Rekonstruktion (Abb. 2): Jeweils auf einem Pfahlpaar oder auf einer Dreier-Pfahlgruppe liegende Querriegel trugen ihrerseits in Straßenrichtung verlegte Unterzüge, auf denen wiederum eine quer zur Straße verlegte Bohlenabdeckung ruhte, die eigentliche Lauf- und Fahrfläche Zu dieser Straßenkonstruktion, deren Breite zumindest das Befahren durch zwei Wagen nebeneinander erlaubt haben muss, gibt es ent­sprechende Parallelbefunde aus Greifswald und Breslau.

Abb. 2: Der Bohlenweg aus der Zeit um 1238 in der Kehdingerstraße, Rekonstruktuktionsversuch, Länge der Pfähle 1,90m.

Noch größer dimensioniert war offensichtlich der Bohlenweg, der in der Hökerstraße direkt vor dem mittelalterlichen Rathaus erfasst wurde. Hier zeigte sich in einem schmalen Grabungsschnitt über einem Unterbau aus Krüppelhölzern in der zerstörten Fahr­bahndecke neben verworfenen Holzteilen eine mächtige Eichenbohle von einem halben Meter Breite und 15 Zentimetern Stärke, die über eine Länge von 4 Metern zu verfolgen war, sich wahrscheinlich aber noch weiter erstreckte (Abb. 3).

Abb. 3: Der Bohlenweg in der Hökerstraße. Bohle aus der Abdeckung dendrodatiert auf 1256. Breite der Bohle 48cm.

Das Holz, für das dendrochronologisch das Fälljahr 1250 ermittelt wurde – womit wahrscheinlich auch das Baujahr des Weges zu erschließen ist -, war an beiden Längskanten mit einem breiten Falz versehen. Zwei Möglichkeiten der Fahrbahnrekonstruktion sind denkbar: eine Fahrbahn­decke aus einer Vielzahl dieser Bohlen, die im Wechsel zweier Varianten verlegt waren (Abb. 4 a), oder eine Fahrbahndecke, in der die in einem bestimmten Ab­stand verlegten Bohlen als Träger für Querhölzer fun­gierten (Abb. 4 b). Ich halte im Augenblick die zweite Möglichkeit für die wahrscheinlichere. Auch dieser Bohlenweg in der Hökerstraße scheint mit seiner Breite auf das gleichzeitige Befahren durch mehrere Wagen nebeneinander ausgelegt gewesen zu sein. Dass diese außergewöhnlich massive Straßenbefestigung auch mit einer zusätzlichen Funktion dieses Straßen­abschnitts als Platz vor dem Rathaus und für Marktak­tivitäten zusammenhängt, ist gut denkbar.

Abb. 4: Der Bohlenweg in der Hökerstraße. Zwei Möglichkeiten der Rekonstruktion.

Die Holzstraßen waren im 13. und weit bis ins 14. Jahrhundert hinein die Standardstraßen der mittelalter­lichen Stadt. Über ihre durchschnittliche Lebensdauer gibt es noch keine zusammenhängende Untersuchung. Sie dürfte jedoch je nach der Bauweise und der Widerstandsfähigkeit des verwendeten Holzes recht unterschiedlich gewesen sein. Die Grabungsbefunde zeigen immer wieder auch Reparaturen. Offensichtlich sind vor allem Fahrbahnbohlen ausgewechselt worden, wenn sie zerbrochen oder durch Fäulnisbefall unbrauchbar geworden waren. Totalerneuerungen auf höherem Niveau scheint es erst gegeben zu haben, wenn der höher gewachsene Straßenschlamm sie erzwang.

Letztlich war es wohl diese Reparaturanfälligkeit der Bohlenwege die schließlich zu ihrer Ablösung durch die Steinstraßen führte. Zu dieser Veränderung kam es in Stade wie in vielen anderen Städten noch im 14. Jahrhundert, wobei die Innovation wieder in den Hauptverkehrsachsen begann. Im Unterschied zu den frühen Schotterbefestigungen handelte es sich nun um passgenau verlegte Kopfsteinpflaster die auf feste Sandschichten gebettet waren, eben Steinstraßen schon weitgehend im heutigen Sinne. Entscheidend für die ganz andere Lebensdauer der neuen Straßen­form war, dass offensichtlich gleichzeitig die Durchsetzung einer geregelten Straßenreinigung begann, durch die nun das Höherwachsen des Schmutzes zumindest eingeschränkt wurde. Doch erinnern wir uns an das Eingangszitat – es war auch dann immer noch ein wei­ter Weg bis zu den heutigen Straßenverhältnissen.

Literatur

Gläser, M. (Hrsg.): Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum IV: Die Infrastruktur (in Vorbereitung).

Dieser Artikel erschien auch in ‚Archäologie in Niedersachsen‘, Band 5, 2002, Hrsg. Von der Archäologischen Kommission in Niedersachsen. ‚Archäologie in Niedersachsen‘ erscheint im Isensee Verlag, Oldenburg

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