„Von den Unsrigen aber fielen am 5. September mit vielen anderen zwei meiner Urgroßväter namens Liuthar, treffliche Ritter von Hoher Abkunft …“
Thietmar, der Bischof von Merseburg, schrieb diese Zeilen gegen Ende des Jahres 1012. Er schilderte einen Rachefeldzug König Heinrichs I. gegen die slawischen Redarier, deren rechts der Elbe gelegene Burg Lenzen im Jahr 929 belagert und erobert wurde.
„Bischof Eugen, Diener der Diener des Herrn, grüßt … den Ehrwürdigen Bruder Hartwig, Erzbischof von Bremen …“
Mit dieser Anrede begann Papst Eugen III. im Jahr 1151 einen Brief an Hartwig d.Ä., der seit 1148 bis zu seinem Tod 1168 Erzbischof von Bremen war.
Die beiden Zitate markieren Anfang und Ende einer Familie, der Udonen, die sich in männlicher Linie über sieben Generationen, von Liuthar (Luder) bis Hartwig, nachvollziehen lässt, und die von der Mitte des 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts vor allem im Elbe-Weser-Dreieck politisch agierte.
Der „treffliche Ritter“ Liuthar stammte aus einem Adelsgeschlecht, das mit dem sächsischen Kaiserhaus verwandt war. Seinen Sohn Heinrich finden wir in der näheren Umgebung von Kaiser Otto 1., der ihn als Grafen über das Gebiet zwischen den Billungern in Lüneburg und dem Herrschaftsbereich der Bremer Erzbischöfe einsetzte. Es ist überliefert, dass Heinrich im Jahr 969 in Harsefeld eine Burg bauen ließ. Sein Sohn, Heinrich II. (der Gute), ergänzte die Burgbebauung in der zweiten Hälfte des 10.Jahrhunderts, verlegte dann aber im ersten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts den Grafensitz von Harsefeld nach Stade. Diese wahrscheinlich wirtschaftspolitische Entscheidung zeigt allerdings eine besondere persönliche Beziehung der Grafenfamilie zu dem Ort Harsefeld. Denn anstelle der Burg gründete Heinrich II. ein Stift, stellte für mehrere Kanoniker Ländereien für deren Einkommen zur Verfügung und bestimmte die Stiftskirche als Begräbnisstätte für seine Familie. Nach dem Tod Heinrichs II. im Jahr 1016 wurde dessen Bruder Siegfried (gest. 1037) Graf in Stade. Um 1080 versuchte Oda von Werl, die Gattin von Siegfrieds Enkel Luder Udo IL, das Stift in ein Kloster nach benediktinischer Regel umzuwandeln. Das Vorhaben gelang aber erst zum Jahr 1101. Der letzte weltliche Nachfahre des Grafen Heinrich in männlicher Linie war Rudolf II., den 1144 Dithmarscher Bauern erschlugen. Von ihm wird berichtet, dass er nach Harsefeld gebracht und dort bestattet wurde.
Ein Teil des zum Jahr 969 erwähnten Burgareals wurde seit 1987 archäologisch untersucht. Einige Ergebnisse sind im Gelände wieder hergerichtet und bilden zusammen mit dem bereits Mitte der 80er Jahre rekonstruierten Grundriss des 1101 gegründeten Benediktiner-Mönchklosters in Harsefeld einen archäologischen Park.
Der durch Graben und Wall gesicherte Burgbereich war vermutlich etwas größer als ein Hektar. Am Rand eines Geländerückens, also in zunächst günstig erscheinender Lage, befand sich der Überrest eines stabilen Feldsteinfundaments. Es ließ sich noch gut erkennen, obwohl im Spätmittelalter durch den Bau eines Turms für die Klosterkirche nahezu das ganze frühere Gebäude beseitigt worden war. Erhalten war das Fundament der westlichen Mauer mit den Ecken der jeweils nach Osten anschließenden Wände. Vermutlich gehörten diese Überreste zu einer festen Steinkirche, deren Bauzeit in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts fallen dürfte. Die Länge des Gebäudes ist zur Zeit nicht feststellbar – darüber befindet sich heute die ehemalige Klosterkirche -, sie wird aber mindestens zehn Meter betragen haben. Dieser vermutete Kirchenbau erfuhr wahrscheinlich um die Wende des 1. Jahrtausends einen umfangreichen Ausbau nach Westen. Die Findlinge des mehr als 24 m langen Anbaus setzen im Norden und Süden stumpf an die Steine des bereits vorhandenen Fundaments an. Dadurch entstand eine deutlich sichtbare Baufuge. Das neue Fundament ist ein wenig schmaler als das des Urprungsbaus und weist mit einer vermörtelten Ausgleichslage aus kleineren Feldsteinen über trocken versetzten Findlingen auch eine andere Konstruktionsweise auf.
Die durch den Anbau funktionslos gewordene ehemalige Westmauer wurde eingerissen. Man hatte nun einen einschiffigen, mindestens 35 m langen Hallenbau errichtet, der mit dem früheren Westfundament und einem weiteren – ca. acht Meter westlich gelegenen – eine Dreiteilung in Längsrichtung aufwies. Die neu gesetzte Querkonstruktion mag als Spannfundament für die Nord- und Südmauer gedient haben. An dieser Stelle könnte auch ein Lettner gestanden haben, der das Kirchenschiff in einen für die Öffentlichkeit bestimmten und einen der Grafenfamilie, ihren Priestern und Vasallen vorbehaltenen Raum teilte. Die Grabkirche des Herzogs Otto v. Northeim (gest. 1083), dessen Stieftochter Oda v. Werl war und der der Harsefelder Kirche einen Turm und einen Altar stiftete, ist ähnlich proportioniert. Vielleicht war sie Vorbild für seine eigene Grablege in Northeim.
Der Ausbau der Burgkirche stand in Zusammenhang mit dcr Entscheidung der Grafenfamilie, den Wohn- und Herrschaftssitz von Harsefeld in das 17 km entfernte Stade zu verlegen und an Stelle der Burg ein Stift für Weltgeistliche zu errichten. Im Mittelteil der drei räumlichen Abschnitte, zwischen den beiden Querfundamenten, befanden sich 28 Bestattungen in 23 voneinander unterscheidbaren Grabgruben. Die von P. Caselitz durchgeführte anthropologische Untersuchung der geborgenen Skelette ergab, dass 5 Frauen, davon eine hochschwanger, 19 Männer und 4 Kinder zu dem früh- und hochmittelalterlichen Be1egungshorizont gehören.
Die Verstorbenen wurden nicht alle auf die gleiche Art und Weise bestattet. Es ließen sich vielmehr drei verschiedene Grabtypen feststellen, von denen eine in drei Variationen auftritt. Besonders aufwendig sind die Rahmengräber gebaut. Nach dem Ausheben der recht großen Grabgrube wurde ein Rahmen aus ein bis drei Feldsteinlagen aufgemauert. Das Kopfende war nischenförmig ausgestaltet. Die Feldsteine waren mit Ausnahme eines Grabes teils sehr sorgfältig, teils etwas nachlässig vermörtelt und oben abgestrichen. Nachdem die Verstorbenen direkt auf den anstehenden Boden gebettet worden waren, wurden der Rahmen mit Holzbrettern abgedeckt und die Fuge zwischen Deckel und Rahmen vermörtelt (Abb. 1).
Danach wurde die Grabgrube zugeschüttet und im Fußboden der Kirche kenntlich gemacht. Sechs Männer und eine Frau waren auf diese Weise beigesetzt. Bei der zweiten Bestattungsart senkte man in die geöffnete Grabgrube einen rechteckigen Holzsarg hinab. Nach dem archäologischen Befund ist allerdings nicht auszuschließen, dass einige dieser „Särge“ keinen Boden hatten. Das hieße, dass der Verstorbene zunächst auf den nackten Boden der Grabgrube gelegt und dann ein hoher Holzdeckel über ihn gestülpt wurde. Dies würde bedeuten, dass nach demselben Prinzip bestattet worden wäre, wie die Toten in den Feldsteinrahmengräbern, nur eben in „Vollholzausführung“ und ohne Kopfnische. Auch diese Gräber waren im Kirchenfußboden kenntlich gemacht. Rechteckige Särge stellten wir bei fünf Männern und einer Frau fest. Die dritte Bestattungsart waren anthropomorph gestaltete Erdgräber (Abb. 2).
Zu deren Herstellung musste nach dem Ausheben der Grabgrube die Form eines menschlichen Körpers aus dem anstehenden Boden herausmodelliert werden. Dahinein legte man den Leichnam und deckte ihn mit Holzbrettern ab, die direkt auf der Erde lagen. Vermutlich war das Haupt jeweils auf „Kopfkissen“ aus einer Sode gebettet. Abwandlungen des Grabtyps hatten zu beiden Seiten des Kopfes, als Stütze an den Füßen oder an Kopf und Füßen Feldsteine, auf denen vermutlich die Deckelbretter auflagen. Eine Kennzeichnung im Kirchenfußboden muss auch für die Erdgräber angenommen werden. Vier Männer, vier Frauen und eine jugendliche Person von 12 bis 16 Jahren bestattete man in anthropomorphen Erdgräbern.
Für eine Kennzeichnung der Gräber im Kirchenfußboden der wegen späterer Bodeneingriffe leider nicht mehr vorhanden war, spricht die archäologische Beobachtung, dass die Totengräber im Verlauf der Zeit, vor allem im dicht belegten zentralen Bereich der Kirche, immer wieder auf Grabgruben früherer Beerdigungen stießen. Allerdings wurden nur selten die eigentlichen Bestattungen beschädigt. Die sich überschneidenden Grabgruben geben für einige Gräber Hinweise auf die Abfolge der Belegung. Außerdem wird dadurch gezeigt, dass die verschiedenen Grabtypen nicht Ausdruck einer sich im Laufe der Zeit wandelnden Grabsitte sind, sondern eine der verstorbenen Person oder den Umständen angepasste Entscheidung unterstellt werden kann. Eine schriftlich überlieferte Nachricht, die auf eine Grabkennzeichnung schließen lässt, gibt der als Annalisto Saxo bekannte Geschichtsschreiber. Er berichtet, es wären noch in der Mitte des 12. Jahrhunderts die Gräber von Graf Heinrich II. und seiner Frau Mathilde das Ziel von Wallfahrten gewesen. Daraus ist zu schließen, dass die Gräber im Kirchenraum auch zu lokalisieren waren.
Die Zuordnung der Bestatteten zu den aus historischen Quellen bekannten Personen der Udonen wird eine Aufgabe der weiteren Ausgrabungsauswertung sein. Die Verteilung der Gräber zeigt eine gewisse „Gruppenbildung“. Trotz der sehr dichten, im Prinzip gereihten Lage im zentralen Bereich – wahrscheinlich wegen der Nähe zum nicht mehr erhaltenen Hauptaltar – blieb der nordwestliche Teil unberücksichtigt. Direkt südlich der Kirche befand sich ein Friedhof. Bemerkenswert ist die Übereinstimmung der Westgrenze, die in einer gedachten Verlängerung des Spannfundaments verläuft. Die Grabbauweise – es wurden nur anthropomorphe Erdgräber beobachtet – legt es nahe, anzunehmen, dass der Kirchhof im selben Zeitraum genutzt wurde, zu dem auch die Bestattungen im Inneren erfolgten.
Die Grablege der Udonen, der Harsefelder-Stader Grafen, verdeutlicht exemplarisch ein Stück Geschichte des norddeutschen Hochadels im ausgehenden Früh- und im Hochmittelalter. Dies ist von besonderem Wert, weil von dem Stammsitz ihrer östlichen Nachbarn und Konkurrenten, der Grafen- und Herzogfamilie der Billunger in Lüneburg, wahrscheinlich keine Überreste mehr erhalten sind.
Literatur:
ANNALISTA SAXO. ln: G. Waitz(Hrsg.), Monumenta Germaniae Historica Scriptorum6. Hannover 1896.
FRERICHS, K., ZIERMANN, D., MEYER, D.: Ein Platz im Brennpunkt der Geschichte – Burg, Stift, Kapellen und Kloster zu Harsefeld. Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen in den Jahren 1981-84 und 1987. Beiträge des Landkreises Stade zu regionalen Themen 7. Stade 1989.
HAMBURGISCHES URKUNDENBUCH I. Hrsg. von J. M. Lappenberg. Hamburg 1907, Nr. 198.
SCHÜTTE, S.: Die Grabkapelle des Otto v. Northeim. Hammaburg N.F. 9 (Festschrift für W. Hübener), 1989, 247-263. THIETMAR VON MERSEBURG, CHRONIK. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 9. Übertragen von W.Trillmich, 7.Auflage, Darmstadt 1992.
Dieser Artikel erschien auch in ‚Archäologie in Niedersachsen‘, Band 1, 1998, Hrsg. Von der Archäologischen Kommission in Niedersachsen. ‚Archäologie in Niedersachsen‘ erscheint im Isensee Verlag, Oldenburg