Die Sonnenuhr

von Peter Wellbrock

Die Hafengrabung der Hansestadt Stade findet große Aufmerksamkeit bei den Einwohnern und zahlreichen Touristen, die am Alten Hafen von der prägnanten Hudebrücke aufs Baugeschehen  hinab blicken. Denn diese gemauerte Brücke aus dem 16.Jahrhundert aus Ziegelsteinen und Schwedengranit ist altersschwach und muss endlich erneuert werden, zumal auf der Brücke zwei Wohn- und Geschäftshäuser stehen, die weiter genutzt werden. Es leuchtet ein, dass dies ein komplizierter Prozess ist, der allen Beteiligten viel Engagement abverlangt und bis Ende des Jahres 2014 währt.

Ein entsprechender Bauabschnitt wurde vom Wasser mittels Sandsäcken abgesperrt. Auf dem Hafengrund etablierten sich Baumaschinen, Gerätecontainer, Unterkünfte und in der Folge ein riesiger Kran. In den ersten Wochen im September und Oktober hatten die ehrenamtlichen Helfer der Stadtarchäologie sowie Studenten unter Leitung von Dr. Andreas Schäfer, Kulturdezernent der Stadt Stade, sowie Grabungsleiterin Andrea Finck Gelegenheit zu ausgiebiger Recherche „im Untergrund“. Der Hafenschlamm wurde an Ort und Stelle gesiebt, wobei Zehntausende Gegenstände vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, wie Münzen, Warenplomben, Pilgerzeichen, Haushaltsgeräte, altes Werkzeug und Schiffsbedarf, geborgen wurden. Ähnliche Funde gab es bereits bei der ersten Hafengrabung 1989, als an einem anderen Abschnitt Kaiwände erneuert werden mussten. Diese Funde bilden auch den Grundstock für eine Sonderschau des Schwedenspeicher-Museums. Dazu erschien ein von Experten und Hamburger Archäologiestudenten verfasstes Buch „Schätze im Schlick“. Jetzt könnte ein zweiter Teil erscheinen, so umfangreich und vielfältig sind die neuerlichen Funde. 

Zu den prägnanten Gegenständen, die als „Funde der Woche“ in der örtlichen Presse dargestellt werden,  gehören jetzt auch die im Abstand von einigen Tagen, am 25.September und am 5.Oktober 2013, geborgenen Hälften einer Horizontal-Sonnenuhr aus Sandstein. Sie war vermutlich achtlos  im 17. oder Anfang des 18.Jahrhunderts beim „Entsorgen“ von Bauschutt in den Schwinge-Kanal hinter der Hudebrücke geworfen und dabei in zwei gleiche Teile zerbrochen.

Die Horizontal-Sonnenuhr

Die Horizontal-Sonnenuhr

Dass diese wertvolle Steinmetzarbeit überhaupt auf den Grund des Hafens gelangte, ist sicher Brand und Kriegen in Stades Vergangenheit geschuldet: Der Stadtbrand von 1659 vernichtete über 500 Häuser , das Rathaus und die Kirchen. Es gab  Kriege und Belagerungen ( 1675/76 und 1712).  Unsere Sonnenuhr lag also Jahrhunderte im Schlamm des Hafens, bis jetzt wieder ein Sonnenstrahl ihre Oberfläche traf. Der Fund beider Hälften innerhalb weniger Tage war ein unwahrscheinlicher Glücksfall und der Aufmerksamkeit eines Baggerfahrers zu verdanken, der in all dem Geröll die beiden Sandsteinbrocken „mit Inschriften“ im Greifer seines Baggers bemerkte und sanft auf die Seite legte. Mitarbeiter der Baubetriebe haben inzwischen einen Blick für besondere Gegenstände im Baggergut und machen die Archäologen darauf aufmerksam. Natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und des Zeitplans. –  Ein sehr erfreuliches Ergebnis der Zusammenarbeit von Baubetrieben und Archäologie.

 

Dass die Platte genau in der Mitte zerbrochen war, ist auf zwei eckige Aussparungen für die Aufnahme des nicht mehr vorhandenen Schattendreiecks (Gnomon) zurück zu führen. Diese Vertiefungen waren die schwächste Stelle in  der fast quadratischen Platte mit den Maßen 32 mal 34 cm und einer Stärke von  12 cm. Bei dem „Schattenstab“ handelte es sich vermutlich um einen kunstvoll gestalteten Metallweiser  mit zwei  Bolzen zur Arretierung mittels Bleiverguß imStein.

Die Sonnenuhr ist mit reichem Dekor versehen. So  könnte es sein, dass sie zum Inventar eines Schlosses bzw. eines herrschaftlichen Parks gehörte. Zu den Stilelementen gehören Akanthus-Blätter und ein geflügelter Engel, der eine Zierschleife mit dem lateinischen Denkspruch präsentiert:

HORARUIT (Die Zeit flieht dahin. Aus „Laterculus Notarum“ von Karl Demandt. Veröff. d. Archivschule Marburg. 1998)

Die Stadt  Stade besaß jedoch kein Schloss, und die hiesigen Festungsbauwerke benötigten keine prächtigen  Sonnenuhren. Einfache Sonnenuhren für den täglichen Gebrauch konnte sich jeder  selbst anfertigen. Besonders an alten Kirchen findet man solche Einritzungen für die täglichen Gebetszeiten. Am Giebel des Pfarrhauses der Cosmae-Kirche findet sich eine hölzerne Sonnenuhr über Eck mit den Bau- und Restaurierungsjahren 1695, 1824 und 1989. Weitere Hinweise aus Kunstführern gibt es nicht.

Unsere  aufwändig gearbeitete Sonnenuhr könnte den Hausgarten des schwedischen Gouverneurs Hans-Christopher von  Königsmarck (Amtszeit 1648-1663) in seiner ersten Residenz in Stade (später Schloss Agathenburg) geziert haben. Noch heute  erinnert eine Tafel am schlichten Gebäude in der Großen Schmiedestraße daran, dass an diesem Ort die seinerzeit berühmte Gräfin Aurora von Königsmarck, Enkelin des Gouverneurs, geboren wurde.

 

Wahrscheinlicher ist jedoch,  dass die kostbare Steinmetz-Arbeit vom maroden  Schloss der benachbarten Stadt  Bremervörde stammt. Dies Gebäude wurde ab 1682 über mehrere Jahrzehnte als „Steinbruch“ genutzt.  Ziegel und Dachsteine samt Sandsteinverblendungen  wurden teilweise nach Stade verbracht und dort für repräsentative Bauten der schwedischen Militärregierung, wie dem ehemaligen Provianthaus und heutigen Schwedenspeicher-Museum,  verwendet.

Durch das Zerbrechen der Sandsteinplatte in zwei Hälften sind  Engelskopf und einige Buchstaben des darunter stehenden Spruchbandes verloren. Beide Details, vor allem das lateinische Sprichwort,  konnten jedoch rekonstruiert werden. Ähnlich auch beim Ziffernkranz. Alle kleinen Abplatzungen sind älteren Datums. Nur an der Unterseite hat der Bagger beim Ergreifen des Steins ein Stück heraus gebrochen. Hier wird die ursprüngliche weißgelbe  Farbe des Sandsteins sichtbar.

Beide Steinhälften sind durch die lange  Lagerung im ständig bewegten und sedimentreichen Wasser (Gezeiten vom Elbstrom) an den Kanten abgeschliffen. Der Gesamteindruck der Sonnenuhr ist Anbetracht ihres Alters von geschätzten. 300 Jahren  erstaunlich gut. Fast alle Details sind konturenreich und wie frisch herausgemeißelt: die arabischen Ziffern, die Stundenlinien und „geflammten“ Striche für die halben Stunden, fächerförmig von der  Sonne auf den Zahlenkranz geführt, die umlaufende Verzierung mit Akanthusblättern auch  auf den Ecken, die Engelsflügel mit dem erwähnten  lateinischen Spruchband.

Die Unterseite der Platte lässt Rückschlüsse auf die Befestigung zu .Die horizontale Sonnenuhr ruhte vermutlich auf einem Postament von ca. 80 cm Höhe. Damit sie davon nicht abrutschen konnte, war auf der Unterseite eine Vertiefung herausgemeißelt.  Eine umlaufende Nut könnte dazu gedient haben, mit einem Metallband die Platte am Postament zu fixieren.

Die kunstvolle Sonnenuhr, wohl  eine der schönsten Norddeutschlands, vermutlich aus dem  Bremervörder Schlosspark, kam nach 1682 (Beginn des Schloßabbruchs in Bremervörde) mit einem Lastkahn über den Oste-Fluss  nach Stade, erlitt dort  leider das Schicksal von Brand und Zerstörung. In keiner Chronik oder Baubeschreibung  taucht sie bisher auf. Vielleicht gelingt aus Archiven noch ein  Nachweis über ihre wahre Herkunft und den Ort, für den sie geschaffen wurde. Ein kleiner rechter Winkel in einem  freien Feld stammt von dem noch unbekannten Steinmetz und könnte mit Glück zum Meister und Ort ihrer Herstellung führen und in der Folge auch zum damaligen Auftraggeber.

Jetzt aber brechen bessere sonnige Zeiten für sie an. Viele Blicke werden sich auf sie richten, wenn sie – so wäre zu wünschen – für immer im Schwedenspeicher-Museum einen lichten Platz erhält und ihre spannende Geschichte erzählt.

...hier steht sie nun hinter Glas!

…hier steht sie nun hinter Glas!

 

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